3. Juni 2015

Körperstruktur lesen leicht gemacht… eine Einführung

Üblicherweise sprechen viele Menschen davon, dass sie eine schlechte Körperhaltung hätten. Das an sich ist schon interessant, weil doch mehr Menschen über sich Bescheid wissen, als man denkt. In der Faszientherapie sprechen wir statt von einer Körperhaltung von einer Körperstruktur. Der Unterschied zu einer Körperhaltung? Diese kann man einnehmen und diese wechselt auch permanent.

Sie können abweisend Ihre Arme vor der Brust verschränken, den Kopf seitlich zur Seite neigen oder sich zufrieden zurücklehnen und die Hände hinter dem Kopf verschränken. Das alles sind Haltungen, die fließend ineinander übergehen und ständig wechseln. Körperstruktur ist hingegen (scheinbar) etwas Festgefügtes und bietet uns ein tiefes Bild der Gesamtpersönlichkeit. Wie Sie eine Körperstruktur erkennen und lesen und wie Sie Bewegung in der Bewegung analysieren, zeige ich Ihnen kurz in dieser Einführung...

Dafür habe ich mich bei Youtube bedient und mich für den Sänger Richard Ashcroft, den Frontman von The Verve entschieden. Die Älteren ;-) unter Ihnen können sich vielleicht noch an den Welthit aus '97 "Bitter Sweet Symphony" erinnern. Ich hätte mich auch für ein paar Millionen anderer Sänger, Schauspieler, Sportler oder Menschen wie du und ich entscheiden können.

In genau diesem Video sieht man jedoch Ashcroft wunderbar stehen und gehen. Also während Sie diesen Text lesen, bitte die Boxen vom PC auf volle Pulle stellen. ;-) Ich gebe die Minute/Sekunde vor und Sie müssen dann das Video genau an dieser Stelle anhalten. Dann sehen auch Sie den Menschen mit Ihren Augen so, wie ich und viele meiner Senmotic-Kollegen mit unseren Augen unsere Mitbürger sehen.

Los geht es bei 0:17. Dort sehen wir Ashcroft von Kopf bis Fuß stehen. Wir beginnen bei der Strukturanalyse immer unten an den Füßen/Beinen. Denn deren Verschiebungen und Spannungen setzen sich nach oben fort. Zuerst betrachten wir die Füße. Die stehen an den Fußspitzen weit auseinander gestellt, während die Fersen sich fast berühren. Man könnte meinen, dass Ashcroft die fehlende Standbreite und die angespannten Beine dadurch kompensiert, dass er die Fußspitzen weit nach außen trägt um so wenigstens etwas ein Gefühl des sicheren Standes zu haben. Meistens stehen bei dieser Struktur die Rückseiten der Beine unter Spannung und regelmäßig finden wir eine Spannungsspitze in einem zusammengekniffenen Po. Tiefe fasziale Strukturen unter dem großen Pomuskel stehen unter starker Spannung und drehen die Beine zusätzlich nach außen.

Die Beine selbst stehen in einem leichten "O" und belasten die nach außen zeigenden Knie übergebührlich. Die Knie sollten jedoch eigentlich geradeaus und ein ganz leichtes "X" zeigen. Wenn wir weiter nach oben schauen, sehen wir einen flachen Brustkorb und die nach vorn eingerollten Schultern. Die Schultern sollten jedoch eigentlich an den Seiten stehen. Die Schulterpartie wird von unten über die Seitenlinie Becken-Brustkorb angehoben und getragen. Ein strukturelles Merkmal für eine gut funktionierende Schulter, welches bei Ashcroft völlig fehlt.

Wir sehen auch, dass seine linke Schulter tiefer steht als die rechte Schulter. Seine linke Schulter scheint auch länger zu sein als die rechte Schulter. Die unterschiedlichen Schultern erkennen wir auch an den Händen, die auf verschiedenen Höhen etwas lieblos an den Seiten baumeln. Der Hals scheint uns in einem Bogen entgegen zu kommen und ähnelt einem Schwan. Das deutet auf eine komplett verkürzte Vorderseite hin. Interessant ist auch, dass Ashcroft seinen Kopf bewusst heben muss und der Kopf nicht mühelos und frei aufrecht getragen wird.

Wenn wir übrigens wissen wollen, welche Schulter beweglicher ist, die tiefere linke Schulter oder die höhere rechte Schulter, müssen wir nur warten, bis Ashcroft losläuft. Insgesamt macht er von seiner Persönlichkeit keinen selbstbewussten Eindruck und ihm fehlt jegliche mühelose Aufrichtung. Allerdings macht auch dieses strukturelle Durcheinander einen Teil seines Charismas aus.

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Bei 0:25 läuft Ashcroft los und bestätigt, was wir schon im Stehen erkannt haben. Er bewegt kaum seine Oberschenkel. Die eigentliche Fortbewegung findet fast nur in den Unterschenkeln/Füßen statt. Üblicherweise beginnt jedoch der Psoas-Muskel tief im Bauchraum zu kontrahieren, dann wird die Bewegung auf die Oberschenkel übertragen. Bei Ashcroft vermögen wir keine Bewegung im Psoas zu erkennen.

Diese Unsicherheit in den Beinen gleicht Ashcroft durch einen schwankenden Gang und durch ein Hin- und Herwerfen des Oberkörpers aus.

Während das rechte Bein relativ gut gerade aus und in einer Spur läuft, scheint Ashcroft seinen linken Fuß nicht neben dem rechten Fuß, sondern vor dem rechten Fuß in dessen Spur abzusetzen. Ein außergewöhnlich verzerrtes Gangbild.

Bei 0:49 können Sie auch erkennen, welche Schulter beweglicher ist. Es ist seine linke Schulter. Beim Gehen bewegt er übermäßig seinen linken Arm und rudert damit um sein Gleichgewicht, während der rechte Arm und auch die Schulter wie festgebacken völlig leblos an ihm kleben. Auch der Brustmuskel wird beim Rudern mit dem Arm länger und seine linke Seite wirkt schon fast überlebendig. Während rechts keine Bewegung im Brustmuskel zu erkennen ist und die obere rechte Körperhälfte sehr unbeweglich wirkt.

Bei 1:19 und 1:53 sehen wir auch die Schulter von der Rückseite. Da können wir die unterschiedlichen Höhen nochmals deutlich erkennen.

Ab 1:27 können wir noch mal einen Blick auf sein Gangbild werfen. Der rechte Fuß läuft geradeaus, während der linke Fuß völlig verdreht mit der Ferse vor dem rechten Fuß aufsetzt.

Bei 1:46 sieht man für einen kurzen Augenblick seine Füße von der Rückseite. Besonders im linken Fuß lässt sich deutlich ein Knickfuß ausmachen. Das Körpergewicht von Ashcroft wird mehr auf die Innenseite des Sprunggelenks übertragen und kann dort über Jahre zu funktionellen Veränderungen, Schmerzen und häufigem Umknicken führen.

Diese Verdrehungen und Kippungen des Fußes setzen sich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in eine Beckenrotation fort. Wir erkennen auch, wie innerlich zerrissen Ashcroft sein muss. Der Oberkörper, der durchaus bei aller Schlankheit eine männliche Breite in den Schultern zeigt, scheint überhaupt nicht zu dem engen einspurigen, zusammengekniffenen Gang zu passen. In 2005 erklärte Ashcroft übrigens, an einer bipolaren Störung zu leiden. Das Durcheinander in seinem Kopf setzt sich auch in einem Durcheinander in seinem Körper fort. Oder setzt sich das Durcheinander in seinem Körper in seinem Kopf fort? Wir wissen es nicht. Was war zuerst da? Die Nervenzelle oder die Muskelzelle?

Das ist der erste grobe Eindruck, den uns Ashcroft von sich selbst vermittelt. Natürlich können wir noch mehr Details erkennen. Die Spannung in seinem Gesicht und der zusammengekniffene Mund, wenn er gerade die Lippen nicht bewegt. Oder dass er seinen Kopf nur mit Mühe aufrechthalten kann und er immer leicht nach vorn geneigt ist und er die Tendenz hat, mit gesenktem Kopf und auf die Straße gerichtetem Blick zu gehen. Noch viel mehr könnten wir auch erkennen, wenn Ashcroft die "Sweet Bitter Symphony" mal nur im Slip singen würde. ;-) Wie Sie auf jeden Fall sehen konnten, kann selbst Kleidung die Struktur und das "Sein" des Menschen nicht verbergen und zeigt uns, in welcher "Realität" dieser Mensch lebt. Das betrifft alle Menschen. Sie genauso wie mich.

Man muss sich fragen, welche Lieder würde Ashcroft singen, wenn er seine rechte Schulter nicht festhalten würde? Welche Stimme hätte er, wenn er fest und breit mit beiden Füßen auf dem Boden stehen würde und seine Beine zu seinem Oberkörper passen würden. Würde er sich dann überhaupt für seinen jetzigen Lebensentwurf entscheiden? Wie würde Ashcroft durch sein Leben gehen, wenn er anders gehen könnte? Abgesehen davon, dass diese Struktur früher oder später zu handfesten körperlichen Problemen führen kann, zeigt ein Mensch mit seiner Körperstruktur vor allem eins: sich selbst in allen Facetten. Und er zeigt seine objektive Realität. Die völlig verschieden von seiner subjektiven Wahrnehmung sein kann. Während die subjektive Wahrnehmung jedoch durch verschiedene Filter (Erziehung, Kultur, verzerrte Selbstwahrnehmung) manipuliert wird, zeigt die Körperstruktur die schonungslose "Wahrheit". Eine Beckenrotation ist eine Beckenrotation und ein verdrehter Fuß ist ein verdrehter Fuß mit einem eingeschränkten Gangbild und fehlender Bodenhaftung. Auch wenn man von sich selbst denkt, dass man ordentlich läuft und sich sogar für sportlich halten würde... Erst wenn der Fuß wieder gerade steht und die Beckenrotation beseitigt wurde (vorzugsweise mit Senmotic ;-)) wird man merken, dass man sich die ganze Zeit über sich selbst geirrt hat und zu ganz anderen Leistungen fähig ist.

Abschließend möchte ich mich bei Herrn Ashcroft entschuldigen, dass gerade er als Model und Beispiel für eine erste Strukturanalyse herhalten musste. Doch irgendwie ist er selbst schuld. Warum singt er auch so eine coole Mucke? ;-)